Mémoire à quatre voix (in etwa „Erinnerung aus vier Blickwinkeln“) ist ein Gesprächsformat zwischen Nachkommen von NS-Opfern und -Tätern. Die Protagonist:innen sind Yvonne Cossu-Alba und Jean-Michel Gaussot (Frankreich) sowie Barbara Brix und Ulrich Gantz (Deutschland). Sie haben sich in der Gedenkstätte Neuengamme kennengelernt und sind Freund:innen geworden. Am 16. November waren sie ins Institut français Bremen eingeladen, um sich über ihre unterschiedlichen Biographien, ihre jeweiligen Annäherungen zur Geschichte ihrer Väter und die gesellschaftliche Bedeutung eines Austauschs zwischen Nachkommen von Täter:innen und Verfolgten auszutauschen.
Die franko-deutsche Veranstaltung wurde komplett zweisprachig abgehalten. Während die vier Protagonist:innen in ihren jeweiligen Muttersprachen vortrugen, wurde nach dem Prinzip der Flüsterübersetzung gedolmetscht. Dr. Christel Trouvé (wissenschaftliche Leitung: Denkort Bunker Valentin) moderierte das Gespräch.
Yvonne Cossu-Alba schilderte, wie sie erst 8 Jahre alt war, als ihr Vater Robert Alba, der die Résistance auf der Crozon-Halbinsel in der Bretagne anführte, im Oktober 1943 von der Gestapo und Vichy-Milizen verhaftet wurde. Sie sagte: „Der Schock war immens“, als die Familie vom Tod des Vaters im Auffanglager Sandbostel erfuhr. Jahrelang weigerte sie sich, daran zu glauben, denn die konkreten Beweise fehlten. Bis heute trägt Yvonne Cossu-Alba den Ehering ihres Vaters – es ist der einzige Gegenstand von Robert Alba, den seine Familie aus Deutschland zurückerhalten hat.
Jean-Michel Gaussot lernte seinen Vater, Jean Gaussot, nie kennen. Als Jean-Michel geboren wurde, war sein Vater bereits nach Deutschland deportiert worden, weil er sich für die Résistance engagiert hatte. Er starb im Alter von nur 30 Jahren im Auffanglager Wöbbelin. Sein Vater sei für Jean-Michel Gaussot stets ein wichtiges, wenn auch schwer greifbares Vorbild gewesen. Sein ganzes Leben lang war er von dem Bestreben angetrieben, dem Vater nachzueifern und sich ihm als würdig zu erweisen. Seine Beziehung zum Vater drückt sich im Titel des Buches aus, das er im Jahr 2016 veröffentlichte: „Ode au grand absent qui ne m’a jamais quitté“ (Ode an den großen Abwesenden, der mich nie verlassen hat).
Barbara Brix führte aus, wie sie mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod ihres Vaters auf dessen Aktivitäten in der Waffen-SS und der Einsatzgruppe C in Frankreich und der Ukraine aufmerksam wurde. Nach jahrelangen Recherchen fand sie heraus, dass er bei mindestens einer großen Massenerschießung von Jüdinnen und Juden in Lwiw dabei gewesen sein soll. Über die Kriegsjahre herrschte in der Familie „absolutes Schweigen“.
Auch in der Familie von Ulrich Gantz seien die Taten des Vaters ein Tabuthema gewesen, teilweise würden sie immer noch verdrängt werden. Nach dem Tod des Vaters stießen Ulrich und seine Geschwister auf Plastiktüten voller historischer Dokumente. Dabei kam heraus, dass der Vater bei zahlreichen Massenerschießungen der Einsatzgruppe B beteiligt war, ein Foto zeigte den Vater neben Heinrich Himmler. Über seine Gefühle angesichts dieser grauenhaften Entdeckungen sagt Ulrich Gantz: „Es ist, als ob der Boden, auf dem man steht, anfängt zu schwanken“.
Die beiden deutschen Nachkommen fanden Unterstützung in Seminaren und weiteren Angeboten der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Es half ihnen sehr, öffentlich über ihre Geschichten zu sprechen. In der Gedenkstätte lernten sie Yvonne Cossu-Alba und Jean-Michel Gaussot kennen. Zwischen den vieren entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, aus der schließlich das gemeinsame Format Mémoire à quatre voix entstand.
Nach den Ausführungen der vier Protagonist:innen folgte eine lebhafte Gesprächsrunde mit dem Publikum. Auf die Frage, ob die Nachkommen der Täter ihren Vätern jemals würden verzeihen können, antwortete Ulrich Gantz eindrücklich: „Wir sind nicht die Personen dafür. Verzeihen können nur die Opfer“.
Das Publikum aus mehr als 30 Gästen äußerte vielfach Dank für die Offenheit der vier Protagonist:innen, die sehr persönlich und emotional über ihre jeweiligen Familiengeschichten sprachen.
Am Nachmittag vor der Veranstaltung wurden die vier Protagonist:innen vom Bürgerschaftspräsidenten Frank Imhoff in der Bremischen Bürgerschaft empfangen. Mit ihm tauschten sie sich über die anstehende Veranstaltung und über ihre persönlichen Familiengeschichten aus, bevor sie gemeinsam die Bremische Bürgerschaft besichtigten.
Mémoire à quatre voix wurde veranstaltet von der Landeszentrale für politische Bildung Bremen / Denkort Bunker Valentin und dem Institut français Bremen in Kooperation mit der Deutsch-