Ernährungsgutachten

Hungerkrankheiten in Farge

 Weitere Informationen zum Bild finden Sie im Transkript des Bildes
Kopf des Gutachtens der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf über den Ernährungszustand in den Lagern im Umfeld der Bunkerbaustelle Quelle: VVN Bremen

Transkript:

1. Medizinische Klinik des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf
Direktor: Professor Dr. H. H. Berg

Hamburg 20, den 4. März 1944.
Martinistraße 52
Fernsprecher: 53 10 41

[Handschrift, unerkenntlich]
1 Sonderdruck
[Unterschrift]

Gutachten
über den Ernährungszustand der Kriegs- usw.-Gefangenen in den Lagern Russenlager Bremen- Blumenthal, Arbeitserziehungslager and KL.

Geheim

Im Winter 1943/44 beschwerten sich immer mehr Betriebe in Farge über den Gesundheitszustand der Häftlinge. Sie waren häufig zu schwach zum Arbeiten. Tatsächlich war die Ernährungssituation in den Lagern und auf der Baustelle katastrophal. Marineoberstabsarzt Dr. Fölsch war bei der Oberbauleitung zuständig für die medizinische Versorgung. Er verfasste einen Bericht zum Gesundheitszustand der Häftlinge, der im Februar 1944 an den leitenden Internisten der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, Prof. Dr. Hans Heinrich Berg, geschickt wurde. 

Verantwortliche Mediziner

Prof. Dr. Hans Heinrich Berg Quelle unbekannt

Hans Heinrich Berg war seit Januar 1935 Professor für Innere Medizin und Leiter der 1. medizinischen Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er beratender Internist im Wehrkreis X, zu dem auch Bremen gehörte. Er war damit auch für Kriegsgefangenen- und Arbeitslager verantwortlich. Berg sollte klären, welchen Einfluss die Ernährung auf die Gesundheit und vor allem auf die Arbeitskraft der Häftlinge hatte und was getan werden konnte, um die Situation zu verändern.

Untersuchung vor Ort

 Weitere Informationen zum Bild finden Sie im Transkript des Bildes
Auszug aus dem Eppendorfer Ernährungsgutachten Quelle: VVN Bremen

Transkript:

Untersucht man die Ernährungsverhältnisse in den oben erwähnten Lagern an Hand der dem Berichten des Herrn Marineoberstabsarzt Dr. Fölsch vom 18. bzw. 25. Februar 1944 beigelegten Nahrungstabellen, so ergibt sich z. B. für die K.L.-Verpflegung für den einfachen Arbeiter ein Wert von 8 Gr tierischem Eiweiss, 17 Gr vegetabilischem Eiweiss im Brot, 11 Gr in Kartoffeln und Nährmitteln, so dass insgesamt 37 Gr von biologisch hochwertigem Eiweiss verabreicht werden. Eine solche Kost wäre bei einer Gesamtkalorienmenge von über 2000 Kalorien nicht mehr als ödemerzeugend anzusehen. Bei der angegebenen Ziffer von 1584 Kalorien dagegen ist sie kalorisch insuffizient. Dasselbe ist von der Schwerarbeiter- bzw. Lang- und Nachtarbeiterverpflegung zu sagen, deren Kost bei Arbeitseinsatz ödemerzeugenden Charakter bekommt, während er für die Ruhe ausreichend ist. Hier finden sich insgesamt 56 Gr biologisch hochwertigen Eiweisses, wovon 10 Gr tierisches Eiweiss sind. Bei körperlicher Ruhe und bei Verabreichung von etwa 600 Gr Kartoffeln würde eine solche Kost für die Heilung von Ödemzuständen eben ausreichend sein.

Berg und sein Stellvertreter Heinrich Berning fuhren nach Farge, um sich ein eigenes Bild zu machen. Sie untersuchten die Häftlinge in verschiedenen Lagern in Farge und Blumenthal und stellten „alle Grade schwerer Ernährungsstörungen“ fest. Auch Tuberkulose war weit verbreitet. Besonders betroffen waren die sowjetischen Kriegsgefangenen im sogenannten Russenlager. Als Hauptursache stellte Berg Eiweiß- und Kalorienmangel fest.

Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag XC Wietzendorf, Winter 1941 Quelle: Kreisarchiv Heidekreis

Experimente an Häftlingen

Bergs Diagnose beruhte vor allem auf den Forschungsergebnissen seines Assistenten Heinrich Berning. Berning hatte im Jahr 1941 umfangreiche Ernährungsversuche an sowjetischen Kriegsgefangenen aus Lager XC Wietzendorf durchgeführt. Von den 56 Gefangenen überlebten zwölf die Versuche des Arztes nicht. Berning stellte fest, das Lungentuberkulose als „wichtigste Komplikation der Hungerkrankheit“ anzusehen sei. Berning veröffentlichte die Ergebnisse 1944. Dafür erhielt er den Kriegsmartini-Preis der Stadt Hamburg.

Veröffentlichung nach dem Krieg

 Weitere Informationen zum Bild finden Sie im Transkript des Bildes
Ergebnisse der Experimente an Kriegsgefangen in Buchform: "Die Dystrophie", 1. Auflage 1949 Foto: Roland-antiquariat, Weinheim

Transkript:

DIE DYSTROPHIE

von PROF. DR. HEINRICH BERNING

[Logo]
1949

GEORG THIEME VERLAG - STUTTGART

1949 erschienen Bernings die Ergebnisse seiner Forschungen ein zweites Mal, diesmal unter dem Titel „Die Dystrophie“. Das Buch gilt noch immer als Standardwerk. Grundlage des Buches waren „unsere Erfahrungen während der vergangenen sechs Jahre“, schrieb Berning im Vorwort. Behandelt worden seien „Lazarettkranke verschiedener Nationalitäten“. Dass es sich um Experimente an Kriegsgefangenen handelte, die vorher gar nicht krank gewesen waren, schrieb er nicht. Auch von den zwölf Toten ist nicht die Rede. Das Buch ist bis heute antiquarisch zu erwerben.

Berechnungen und Empfehlungen

 Weitere Informationen zum Bild finden Sie im Transkript des Bildes
Todesmeldung: Iljia Olefirenko starb im März 1945 an den Folgen von Schwerstarbeit und Unterernährung Quelle: unbekannt

Transkript:

OT - Einsatzgruppe 1.
Gross - Revier Heidkamp.

Bremer - Farge, den 9. März 1945

Meldung.

Der Ostarbeiter Olefirenko, Jlia, geb. am 2.7.1880 in Blagewetschenko, verh. beschäftigt bei der Firma Arge Nord als Arbeiter, ist am 9.3.1945, 5.30 Uhr im Krankenrevier Heidkamp an Oedeme und allgemeinen geistigen und körperlichen Kräfteverfall verstorben.

[Handschrift, unleserlich]

OT-Lagerarzt Dr. di Francesco
[Unterschrift]

Berg und Berning gaben mehrere Empfehlungen ab, wie das Problem des Ausfalls von Arbeitskräften zu lösen sei: Die „Ernährungsgeschädigten“ seien möglichst früh „auszusondern“. An Tuberkulose erkrankte Häftlinge seien ebenfalls „auszusondern“, weil sie „niemals für den Arbeitsprozess mehr in Frage kommen.“ Die Übrigen sollten mit hochwertiger Nahrung „aufgefüttert“ werden. Für alle noch gesunden Häftlinge müsse für eine ausreichende Ernährung gesorgt werden. Das Gutachten schließt: „Nur so ist der Unterzeichnete davon überzeugt, dass sich weitere unrettbare Ausfälle von Arbeitskräften vermeiden und die noch rettbaren nach einer gewissen Zeit wieder in den Arbeitsprozess eingliedern lassen.“ Die Empfehlungen des Gutachtens scheinen nicht weiter beachtet worden zu sein. Hunger und die damit verbundenen Erkrankungen blieben einer der Haupttodesursachen in den Lagern und auf der Baustelle.

Karriere ohne Bruch, Teil 1

Das allgemeine Krankenhaus in Hamburg-Barmbek Quelle: unbekannt

Ihre Tätigkeit während des Kriegs oder ihre SS-Mitgliedschaften blieben für die beiden Mediziner folgenlos. Heinrich Berning wurde problemlos entnazifiziert. Er kehrte in seinen Beruf als Arzt zurück, lehrte weiter in Eppendorf und übernahm 1969 eine Professur für Innere Medizin an der Universität Hamburg. Von 1963 bis 1974 leitete er außerdem das Allgemeine Krankenhaus in Hamburg-Barmbek. 1983 allerdings eröffnete die Staatsanwaltschaft Hamburg Ermittlungen wegen Mordes gegen den inzwischen pensionierten Heinrich Berning. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt. Berning starb am 23. Februar 1994 in Hamburg.

Karriere ohne Bruch, Teil 2

Das Verwaltungsgebäude des Universitätsklinikums Eppendorf um 1900 Quelle: Medizinhistorisches Museum Eppendorf

Berg wurde nach Kriegsende zwar suspendiert. 1947 kehrte er allerdings nach Eppendorf zurück. Bis zu seiner Pensionierung 1959 blieb er Direktor der Medizinischen Universitätsklinik. Er starb 1968 in Hamburg.

icon--arrow__white icon--info icon--link-extern icon--plus icon--slider-left Slider_Pfeil-rechts_weiss
Zum Anfang der Seite springen