Hungerkrankheiten in Farge
Im Winter 1943/44 beschwerten sich immer mehr Betriebe in Farge über den Gesundheitszustand der Häftlinge. Sie waren häufig zu schwach zum Arbeiten. Tatsächlich war die Ernährungssituation in den Lagern und auf der Baustelle katastrophal. Marineoberstabsarzt Dr. Fölsch war bei der Oberbauleitung zuständig für die medizinische Versorgung. Er verfasste einen Bericht zum Gesundheitszustand der Häftlinge, der im Februar 1944 an den leitenden Internisten der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, Prof. Dr. Hans Heinrich Berg, geschickt wurde.
Verantwortliche Mediziner
Hans Heinrich Berg war seit Januar 1935 Professor für Innere Medizin und Leiter der 1. medizinischen Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er beratender Internist im Wehrkreis X, zu dem auch Bremen gehörte. Er war damit auch für Kriegsgefangenen- und Arbeitslager verantwortlich. Berg sollte klären, welchen Einfluss die Ernährung auf die Gesundheit und vor allem auf die Arbeitskraft der Häftlinge hatte und was getan werden konnte, um die Situation zu verändern.
Untersuchung vor Ort
Berg und sein Stellvertreter Heinrich Berning fuhren nach Farge, um sich ein eigenes Bild zu machen. Sie untersuchten die Häftlinge in verschiedenen Lagern in Farge und Blumenthal und stellten „alle Grade schwerer Ernährungsstörungen“ fest. Auch Tuberkulose war weit verbreitet. Besonders betroffen waren die sowjetischen Kriegsgefangenen im sogenannten Russenlager. Als Hauptursache stellte Berg Eiweiß- und Kalorienmangel fest.
Experimente an Häftlingen
Bergs Diagnose beruhte vor allem auf den Forschungsergebnissen seines Assistenten Heinrich Berning. Berning hatte im Jahr 1941 umfangreiche Ernährungsversuche an sowjetischen Kriegsgefangenen aus Lager XC Wietzendorf durchgeführt. Von den 56 Gefangenen überlebten zwölf die Versuche des Arztes nicht. Berning stellte fest, das Lungentuberkulose als „wichtigste Komplikation der Hungerkrankheit“ anzusehen sei. Berning veröffentlichte die Ergebnisse 1944. Dafür erhielt er den Kriegsmartini-Preis der Stadt Hamburg.
Veröffentlichung nach dem Krieg
1949 erschienen Bernings die Ergebnisse seiner Forschungen ein zweites Mal, diesmal unter dem Titel „Die Dystrophie“. Das Buch gilt noch immer als Standardwerk. Grundlage des Buches waren „unsere Erfahrungen während der vergangenen sechs Jahre“, schrieb Berning im Vorwort. Behandelt worden seien „Lazarettkranke verschiedener Nationalitäten“. Dass es sich um Experimente an Kriegsgefangenen handelte, die vorher gar nicht krank gewesen waren, schrieb er nicht. Auch von den zwölf Toten ist nicht die Rede. Das Buch ist bis heute antiquarisch zu erwerben.
Berechnungen und Empfehlungen
Berg und Berning gaben mehrere Empfehlungen ab, wie das Problem des Ausfalls von Arbeitskräften zu lösen sei: Die „Ernährungsgeschädigten“ seien möglichst früh „auszusondern“. An Tuberkulose erkrankte Häftlinge seien ebenfalls „auszusondern“, weil sie „niemals für den Arbeitsprozess mehr in Frage kommen.“ Die Übrigen sollten mit hochwertiger Nahrung „aufgefüttert“ werden. Für alle noch gesunden Häftlinge müsse für eine ausreichende Ernährung gesorgt werden. Das Gutachten schließt: „Nur so ist der Unterzeichnete davon überzeugt, dass sich weitere unrettbare Ausfälle von Arbeitskräften vermeiden und die noch rettbaren nach einer gewissen Zeit wieder in den Arbeitsprozess eingliedern lassen.“ Die Empfehlungen des Gutachtens scheinen nicht weiter beachtet worden zu sein. Hunger und die damit verbundenen Erkrankungen blieben einer der Haupttodesursachen in den Lagern und auf der Baustelle.
Karriere ohne Bruch, Teil 1
Ihre Tätigkeit während des Kriegs oder ihre SS-Mitgliedschaften blieben für die beiden Mediziner folgenlos. Heinrich Berning wurde problemlos entnazifiziert. Er kehrte in seinen Beruf als Arzt zurück, lehrte weiter in Eppendorf und übernahm 1969 eine Professur für Innere Medizin an der Universität Hamburg. Von 1963 bis 1974 leitete er außerdem das Allgemeine Krankenhaus in Hamburg-Barmbek. 1983 allerdings eröffnete die Staatsanwaltschaft Hamburg Ermittlungen wegen Mordes gegen den inzwischen pensionierten Heinrich Berning. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt. Berning starb am 23. Februar 1994 in Hamburg.
Karriere ohne Bruch, Teil 2
Berg wurde nach Kriegsende zwar suspendiert. 1947 kehrte er allerdings nach Eppendorf zurück. Bis zu seiner Pensionierung 1959 blieb er Direktor der Medizinischen Universitätsklinik. Er starb 1968 in Hamburg.