22.06.2021

Sonnenuntergang Ost

Szenische Lesung

Mit Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion, der sich am 22. Juni 2021 zum 80. Mal jährte, zeigten sich Antislawismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten in zahlreichen gewaltvollen Massenverbrechen. Die sowjetischen Bürger:innen wurden vertrieben, versklavt oder getötet, damit die Nationalsozialisten den „Lebensraum im Osten“ für ihre Siedlungspolitik nutzen konnten. Diesem Menschheitsverbrechen fielen 27 Millionen Menschen aus den zahlreichen Sowjetrepubliken, wie etwa Russland, der Ukraine und Belarus, zum Opfer.

Mit dem Gedenkprogramm „Es werden 30 Millionen verhungern. Vielleicht ist das gut so“ erinnerten die Landeszentrale für politische Bildung Bremen und der Verein „Erinnern für die Zukunft“ e.V. gemeinsam mit verschiedenen Partnerinstitutionen an die größte Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs.

Den Auftakt der Reihe bildeten zwei Veranstaltungen, die am 22. Juni am Denkort Bunker Valentin stattfanden: die szenische Lesung Sonnenuntergang Ost von Martin Heckmann und Kathrin Steinweg sowie die Eröffnung der Ausstellung Brücke der Erinnerung.

In Sonnenuntergang Ost kontrastierten Martin Heckmann – freier Sprecher für Filme, Hörbücher und Lesungen – und Kathrin Steinweg – Schauspielerin an der bremer shakespeare company – die Originalquellen der Täter:innen mit niedergeschriebenen Erfahrungen von Opfern des Vernichtungskrieges. Aus dieser Gegenüberstellung ergaben sich die Leitfragen von Sonnenuntergang Ost: Wie und warum wurde der Überfall geplant? Und was waren die Ursachen für seine unvorstellbare Brutalität? Die Paukenspielerin Vasilia Gordasevich untermalte die szenische Lesung lautmalerisch.

Für ein einleitendes Grußwort zeichnete sich Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff verantwortlich. In seiner Rede wies er darauf hin, dass wir wissen müssen, woher wir kommen, um die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen zu können.

Ein Mann und eine Frau sitzen auf Stühlen, die sich auf einem kleinen Podest befinden.
Impressionen der szenischen Lesung „Sonnenuntergang Ost“ © Denkort Bunker Valentin / LzpB

Kathrin Steinweg widmete sich vor allem den Dokumenten und Aussagen der Täter:innen. Wehrmachtsverordnungen zeigten, wie den Soldaten von höchster Ebene Brutalität vorgeschrieben wurde: sie sollten so rücksichtslos wie möglich vorgehen, im Zweifelsfall schießen, keine Gefangenen machen. Die Genfer Konventionen über die Behandlung von Kriegsgefangenen sollten bewusst missachtet werden. Aus polizeilichen Quellen ging hervor, dass Verbrechen an der Zivilbevölkerung ungeahndet bleiben sollten und dass die Auslöschung ganzer Dörfer billigend in Kauf genommen wurde. Kathrin Steinweg trug diese Texte mit rabiater, herrischer Stimme vor, wodurch es ihr gelang, die menschenverachtende Ideologie zu enttarnen, die sich teilweise hinter den bürokratischen Formeln und Paragrafen der amtlichen Erlässe versteckte.

An anderen Stellen trat diese Menschenverachtung dafür umso offener zutage, etwa als aus Briefen von Wehrmachtssoldaten zitiert wurden. Die Schilderungen in diesen Briefen sorgten für einige der beklemmendsten Momente der szenischen Lesung. Selbst die unvorstellbarsten Gräueltaten, wie etwa barbarische Morde an Zivilist:innen, wurden von den Soldaten mit einer abstoßenden Lässigkeit, Teilnahmelosigkeit und Nüchternheit beschrieben, die Kathrin Steinweg erbarmungslos durch das Innere des Bunkers hallen ließ.

Eine Künstlerin sitzt auf einem Stuhl und spricht in ein Mikrophon.
Impressionen der szenischen Lesung „Sonnenuntergang Ost“ © Denkort Bunker Valentin / LzpB
Ein Mann mit einem Textbuch sitzt vor einem Mikrophon.
Impressionen der szenischen Lesung „Sonnenuntergang Ost“ © Denkort Bunker Valentin / LzpB

Auf der anderen Seite standen die Berichte von Opfern des Vernichtungskrieges, von Martin Heckmann mit viel Sprachgefühl rezitiert. Sie handelten von Hunger, Schmerz, Kälte und Tod, aber auch vom unbedingten Überlebenswillen der sowjetischen Bürger:innen, die in Leningrad eingeschlossen waren oder für deutsche Rüstungsprojekte Zwangsarbeit leisten mussten.
Im Mittelpunkt der ersten Hälfte der Lesung standen die niedergeschriebenen Erinnerungen an die Belagerung Leningrads. Die Millionenstadt sollte willentlich ausgehungert werden, mehr als eine Million Menschen starben. Einige der Bewohner:innen, wie etwa die Lyrikerin Lydia Ginzburg, brachten die Einkesselung zu Papier, indem sie Gedichte und später auch Bücher schrieben. Die drastischen, expliziten Darstellungen intonierte Martin Heckmann mit tiefer und bestimmter, aber doch sanfter und verletzlicher Stimme.

Mit selbstgeschriebenen Kommentaren ordnete er das Vorgetragene in die historischen Zusammenhänge ein. Er erläuterte unter anderem den Zusammenhang zwischen dem Beginn des Vernichtungskrieges und der auf ihn folgenden millionenfachen Versklavung sowjetischer Bürger als Zwangsarbeiter:innen – so auch beim Bau des U-Boot-Bunkers „Valentin“. Den Schicksalen dieser Zwangsarbeiter:innen widmete sich die zweite Hälfte von Sonnenuntergang Ost. Illustriert wurden sie anhand der Erinnerungen von Raymond Portefaix, einem französischen KZ-Häftling, der seine Erfahrungen auf der Bunkerbaustelle und im angrenzenden Konzentrationslager mit dem 1947 erschienenen Buch „L’enfer que Dante n’avait pas prévu“ („Die Hölle, die Dante nicht vorgesehen hatte“) verarbeitete.

Eine junge Frau mit zwei großen Trommeln im Bunkerinnenraum.
Impressionen der szenischen Lesung „Sonnenuntergang Ost“ © Denkort Bunker Valentin / LzpB

Vasilia Gordasevich gelang es, jede Passage der szenischen Lesung mit ihrem beeindruckenden Paukenspiel passend zu akzentuieren. Ihr Spiel reichte dabei von atmosphärisch-subtil bis exponiert-dramatisch. Während der Szenen von der Belagerung Leningrads ließ sie ihre Pauke wie das Donnergrollen des Beschusses erklingen. Bei den Propagandareden der Nationalsozialisten spielte sie ein Crescendo bedrohlicher Marschrythmen. Die Berichte der Opfer unterlegte sie hingegen mit einem andächtigen Beben, für das sie gezielt mit dem Echo des Bunkers spielte.

Laut den Akteur:innen sei Sonnenuntergang Ost als Plädoyer dafür zu verstehen gewesen, die Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und einzuordnen. Martin Heckmann, Kathrin Steinweg und Vasilia Gordasevich wollten die Besucher:innen mit ihrer szenischen Lesung dazu einladen, sich von den Geschehnissen ein subjektives Bild zu machen und davon ausgehend vielleicht sogar eigene Nachforschungen anzustellen. Ausgehend von den Reaktionen der mehr als 60 Zuschauer:innen ist ihnen das gelungen!

Sonnenuntergang Ost wurde veranstaltet vom Denkort Bunker Valentin / Landeszentrale für politische Bildung Bremen, dem Verein „Erinnern für die Zukunft“ e.V. und der Arbeitnehmerkammer Bremen. Die Lesung wurde gefördert von der Karin und Uwe Hollweg Stiftung, der Waldemar Koch Stiftung, dem Senator für Kultur und der Sparkasse Bremen.

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