08.11.2020

„An die Tage des Überlebens“

Spuren einer Freundschaft im Zwangsarbeitslager – Zwischen Leid, Erinnerung und Anerkennung

In Italien bewahrt Maurizio Tomasi zwei Portraits auf. Es sind alte Fotos, die er geerbt hat. Darauf sind zwei Frauen zu sehen. Die Beiden hat er persönlich nie getroffen. Er kennt ihre Geschichte nicht. Er weiß nicht, ob sie noch leben. Seine Verbindung zu diesen Fotografien ist sein verstorbener Vater, Elia Tomasi:

„Diese zwei Frauen waren zusammen mit meinem Vater interniert. Als IMI [Anm.: Italienischer Militärinternierter] musste er auf der Baustelle des Bunkers ‚Valentin‘ Zwangsarbeit leisten und war im Lager Schwanewede eingesperrt. Leider kann ich nicht sagen, unter welchen Umständen er die beiden Frauen kennengelernt hat, auch nicht welche Art der Verbindung es zwischen [ihnen] gab. Er hat nur berichtet, dass es sich um zwei russische Frauen handelte.“

Maurizio Tomasi

Das Lager in Schwanewede

Das Zwangsarbeitslager in Schwanewede war das größte Lager in der „Rüstungslandschaft“ um den Bunker „Valentin“. Es war ein Doppellager, denn entsprechend der rassistischen Ideologie wurden die Zwangsarbeiter:innen getrennt voneinander untergebracht. Das Schwaneweder Lager bestand aus einem „Westarbeiterlager“ und einem „Ostarbeiterlager“; von den Nazis als „Heidkamp I“ und als „Heidkamp II“ bezeichnet.

Betreiberin war die Organisation Todt (O.T.), eine paramilitärische Bauorganisation, die für verschiedene Kriegsbauwerke verantwortlich war. Darunter waren Bauten wie der „Westwall“, der „Atlantikwall“ sowie die Untertageverlagerung von Industriebetrieben. Während des Zweiten Weltkriegs setzte die O.T. zahlreiche Zwangsarbeiter:innen bei den kriegswichtigen Bauprojekten ein. Auch nach Farge wurden zahlreiche Menschen aus den besetzten Gebieten deportiert und zur Arbeit an einem Rüstungsprojekt der Kriegsmarine, dem Bunker „Valentin“, eingesetzt.

Es waren von 1943 bis 1945 ungefähr 4.500 Zwangsarbeiter:innen im Lager „Heidkamp“ untergebracht. Menschen aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Dänemark, Rumänien, Polen und aus der Sowjetunion mussten in diesem Lager leben. Aber auch eine große Gruppe von „Italienischen Militärinternierten“ wurde dort inhaftiert. [2]

Während die sogenannten „Westarbeiter“ in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten weiter oben standen und ein wenig „besser“ behandelt sowie versorgt wurden, galt dies jedoch nicht für die „Ostarbeiter“ [3] und die „Italienischen Militärinternierten“. Letztere wurden nach der Kapitulation Italiens als Verräter betrachtet und wurden somit vom Verbündeten zum Feind. Ende September 1943 erklärte Hitler die gefangenen Italiener zu „Militärinternierten“. Damit wurde das völkerrechtliche Verbot, Kriegsgefangene in der Rüstungsproduktion einzusetzen, umgangen und die Italiener konnten u.a. am Rüstungsprojekt Bunker „Valentin“ eingesetzt werden.

Elia Tomasi, geboren am 19.07.1924, begann seinen Militärdienst am 26. August 1943 in Italien. Kurz darauf, am 9. September, wurde er von der Wehrmacht gefangen genommen. Als „Italienischer Militärinternierter“ war Elia im „Heidkamp“-Lager eingesperrt und somit auch als Zwangsarbeiter bei der „Arbeitsgemeinschaft Nord“ auf der Bunkerbaustelle eingesetzt. Dort entstand die Verbindung zu den beiden Frauen aus der Sowjetunion.

Elia Tomasi als junger Mann Quelle: Privatbesitz

„OST“ auf der Brust

Die beiden Frauen auf den Fotos waren sogenannte „Ostarbeiter“ und wurden wahrscheinlich Mitte 1943 aus den besetzten sowjetischen Gebieten ins Deutsche Reich deportiert, um für die kriegswichtige Bunkerbaustelle unter Zwang zu arbeiten. „Ostarbeiter“ ist ein nationalsozialistischer Begriff, der harmlos wirkt und die Situation von ungefähr 3 Millionen zivilen Zwangsarbeiter:innen [4] aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend umschreibt. Dahinter steckten die unmenschliche, rassistische Behandlung und der Antislawismus der Nazis. Sie hatten für die „Ostarbeiter“ zahlreiche rassistische Regeln und Gesetze entwickelt, da die Menschen aus der Sowjetunion in der NS-Hierarchie auf den niedrigsten Ebenen standen und als Menschen minderen Werts galten. Deshalb wurden sie schlechter versorgt und behandelt. Zudem mussten sie eine diskriminierende Kennzeichnung auf ihrer Brust tragen: ein rechteckiger, blau-weißer Stoffstreifen, auf dem in Großbuchstaben „OST“ stand. Der Begriff macht auch unsichtbar, dass von den ungefähr 3 Millionen „Ostarbeiter“ fast zwei Drittel Frauen waren. [5]

In der nationalsozialistischen Gesellschaft, der sogenannten „Volksgemeinschaft“, wurden nur die Menschen als vollwertige Mitglieder betrachtet, die der sogenannten „arischen Rasse“ angehörten und sich uneingeschränkt zum „Führer“ bekannten und ihm bedingungslos folgten. Eine diffuse Vorstellung von großen, blonden nordischen Menschen mit blauen Augen setzte sich in der Propaganda durch, aber konkrete Merkmale für die Zugehörigkeit wurden selten genannt. Der Begriff „Volksgemeinschaft“ wurde vor allem deshalb eingeführt, um ihn als Instrument gegen „unerwünschte“ Menschen zu nutzen. [6] Dies richtete sich vor allem gegen die jüdischen Menschen, Sinti:zze und Rom:nja, aber auch gegen die sowjetischen Bürger:innen.

Ausgrenzung, Ausbeutung, Diskriminierung, willkürliche Gewalt und Bestrafung bestimmten den Alltag vieler Zwangsarbeiter:innen. Vielleicht führten das gemeinsame Leid, die schwere Arbeit und die unmenschliche Behandlung durch die Nazis zu einer Freundschaft zwischen den beiden Frauen aus der Sowjetunion und dem Italiener Elia Tomasi.

Ob Elia die beiden Frauen im Lager oder bei der gemeinsamen Arbeit kennengelernt hat, wissen wir nicht. Wo der Kontakt entstanden ist, können wir nicht sagen. Aber dass er entstanden ist, belegen die beiden Fotos, mit folgenden Worten auf den Rückseiten (übersetzt aus dem Russischen):

„Iljuscha, für eine gute, lange Erinnerung von Sina. An die Tage des Überlebens in Deutschland. Iljuscha, erinnere dich, wie wir zusammengearbeitet haben.“

„Ily, für eine gute, lange Erinnerung von Wera Falej. An die Tage des Überlebens in Deutschland. 4. Mai 1945“

Portraits der Frauen mit handschriftlichen Notizen in kyrillischen Schriftzeichen.
Bild 1 links, Sina: "Iljuscha, für eine gute, lange Erinnerung von Sina. An die Tage des Überlebens in Deutschland. Iljuscha, erinnere dich, wie wir zusammengearbeitet haben." Bild 2 rechts, Wera: Ily, für eine gute, lange Erinnerung von Wera Faley. An die Tage des Überlebens in Deutschland. 4. Mai 1945" Quelle: Privatbesitz, Datum und Fotograf unbekannt

Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion

Seit 2016 forschen wir am Denkort Bunker Valentin zu den Zwangsarbeiterinnen auf der Bunkerbaustelle. Davor waren wir eigentlich davon ausgegangen, dass keine Frauen für das Rüstungsprojekt eingesetzt wurden. Es gab in den Quellen keine Hinweise auf sie. Auch Zeitzeugen sprachen nie über Zwangsarbeiterinnen. Sie berichteten von deutschen Frauen, die in den Büros oder in Kantinen gearbeitet haben. Nach und nach fanden wir jedoch immer mehr Namen heraus. Mittlerweile haben wir um die 700 Namen aus verschiedenen Listen zusammengetragen. Viele von diesen Frauen kamen aus der Sowjetunion. Weitere kamen vor allem aus Polen, Italien, den Niederlanden, Litauen und Frankreich.

Noch können wir nicht so genau sagen, wo sie auf der Baustelle eingesetzt wurden und in welchem Bereich des Lagers „Heidkamp“ sie untergebracht waren. Dokumente über die Zwangsarbeiterinnen gibt es nur wenige. Mit der Widmung auf den Rückseiten der Fotos erhielten wir über Maurizio und Elia Tomasi zum ersten Mal den Hinweis darauf, dass Zwangsarbeiterinnen doch auf der Baustelle gearbeitet haben. Darüber hinaus ist Wera Falej die erste Zwangsarbeiterin, zu der wir nun ein Foto haben. Wir wissen, dass sie zusammen mit Elia in der „Arbeitsgemeinschaft Nord“, bei der Firma Lenz & Co. und bei dem Bauunternehmer Carl Duve an der Bunkerbaustelle arbeiten musste. Wir wissen auch, dass sie vom 24. Juni 1943 bis zur Befreiung Bremens in Farge war. Wie ihr Leben danach aussah und ob sie wieder in ihre Heimat zurückkehrte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich wurde sie von den Westallierten, wie viele andere Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion, in ein sogenanntes Prüf- und Filtrationslager des NKWD überstellt. In diesen Lagern mussten die ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeiter:innen lange, strenge Verhöre über sich ergehen lassen. Für alle registrierten, rund 5,4 Millionen sogenannten „Repatrianten“ [7] galt nämlich eine Schuldvermutung: Allen Zwangsarbeiter:innen wurde seitens der Sowjetunion Verrat und Kollaboration vorgeworfen. [8] Diese Schuldvermutung wurde in der stalinistischen Propaganda ein Bestandteil des Narratives über den „Großen Vaterländischen Krieg“. Dies führte in der Sowjetunion zu Ausgrenzungen und Diskriminierungen von ehemaligen „Ostarbeitern“. Sie wurden lange Zeit nicht als NS-Opfer wahrgenommen, weder in Deutschland noch in der Sowjetunion. Sie erhielten keine finanzielle Unterstützung oder Entschädigungen. Diese Umstände führten dazu, dass sie ihr Leben lang über ihre Erfahrungen im Deutschen Reich geschwiegen haben und auch mit ihren Familien nie darüber sprachen.

Erinnerung, Verantwortung, Entschädigung?

Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom 20. November bis zum 1. Oktober 1946 waren zwei NS-Funktionäre, die für die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus verantwortlich waren, angeklagt: Fritz Sauckel, der für die Organisation des Arbeitseinsatzes zuständig war. Und Albert Speer, der als Rüstungsminister sehr eng mit Sauckel arbeitete und die Kriegslogistik organisierte. Das Urteil für Speer war eine Haftstrafe von 20 Jahren, für Sauckel die Todesstrafe. Damit galt die gerichtliche Aufarbeitung in Deutschland als beendet und die Zwangsarbeiter:innen gerieten in Vergessenheit. Erst in den 1980er Jahren, als die Rolle der deutschen Unternehmen während der NS-Zeit vermehrt in den Fokus der Aufarbeitung geriet, änderte sich der erinnerungspolitische Fokus. [9] Die Forschung um die sogenannten „vergessenen Opfer“ wurde verstärkt aufgenommen. Im Zuge dessen wurden Forderungen verknüpft, dass die Unternehmen, die während der NS-Zeit an der Ausbeutung von fast 13 Millionen Menschen im Deutschen Reich beteiligt waren, Entschädigungen zahlen müssten. Jahrzehntelang waren Anträge auf Entschädigungen abgewiesen worden, da die NS-Zwangsarbeit nicht als Verbrechen wahrgenommen, sondern als notwendige Begleiterscheinung eines Krieges gerechtfertigt worden war. Aber nicht nur die Aufarbeitung setzte die deutschen Unternehmen unter Druck, auch Boykottaufrufe und Sammelklagen aus dem Ausland (vor allem aus den USA) in den 1990er Jahren drohten den Unternehmen. Schließlich führte dies zu einem Entschluss der Bundesregierung, einen sogenannten Entschädigungsfond zusammen mit der deutschen Wirtschaft zu gründen, um die Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen durchzuführen. [10]

Aus diesem Fond gründete sich im Jahr 2000 die Stiftung „Erinnerung Verantwortung Zukunft“ (EVZ). Das Gründungskapital von 5,1 Milliarden Euro wurde je zur Hälfte vom deutschen Staat und der deutschen Wirtschaft zusammengetragen. Die wirtschaftlichen Unternehmen, darunter BMW, Bahlsen, Bosch, BASF, Deutsche Bank, Daimler-Chrysler, Lufthansa, Porsche, Siemens, Thyssenkrupp, Volkswagen und weitere kauften sich somit von den zukünftigen Forderungen frei und konnten diese Zahlungen sogar steuerlich absetzen.

Laut Stiftung wurde das Auszahlprogramm 2007 abgeschlossen. [11] 4,4 Milliarden Euro zahlte die Stiftung als Einmalzahlungen an 1,7 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter:innen oder Angehörige in mehr als 100 Ländern aus. [12] Wie viel die Entschädigten jeweils erhielten, ergab sich aus einer Kategorisierung, die die Stiftung anlegte: Die Zwangsarbeiter:innen wurden in drei Kategorien eingeteilt, um daraus einen Entschädigungsanspruch abzuleiten. Zur Kategorie A zählten KZ- und Ghetto-Häftling, die max. 7.669 Euro. Unter Kategorie B fasste die Stiftung Inhaftierte in Gestapo-Arbeitslagern und anderen Haftstätten, die eine Summe zwischen 3.068 Euro und 7.669 Euro bekamen. In der Kategorie C gab es noch zusätzlich innerhalb der Gruppe der zivilen Zwangsarbeiter:innen eine weitere Differenzierung. Den Menschen, die in der Industrie eingesetzt worden waren, standen 2.556 Euro zu. Die Zwangsarbeiter:innen in der Landwirtschaft und die Kinderhäftlinge bekamen eine Summe zwischen 536 Euro und 2.235 Euro. [13] Also wurden die Menschen nicht nur in der NS-Zwangsarbeit von den Nazis kategorisiert, sondern auch 55 Jahre später bei der Entscheidung von deutschen Behörden, wie viel ihr Einsatz wert gewesen war und welche Summe als „Entschädigung“ angebracht wäre.

Langjähriger Kampf um Anerkennung

Dabei wurden aber nicht alle Opfer bedacht. Anträge von ehemaligen „Italienischen Militärinternierten“ wurden von den deutschen Gerichten abgewiesen. Sie wurden von den Entschädigungszahlungen ausgeschlossen. [14] Sowjetische Kriegsgefangene erhielten nur dann Zahlungen, wenn sie in Konzentrationslagern inhaftiert oder in den Status eines zivilen Zwangsarbeitenden überführt worden waren. [15] Waren sie in anderen Lagern untergebracht, wurden sie nicht berücksichtigt. Im Stiftungsgesetz der EVZ ist es explizit im § 11 Abs. 3 festgesetzt. Die Begründung hierfür war, dass der Art. 49 in der Genfer Konvention den Arbeitseinsatz von Kriegsgefangen grundsätzlich erlaubt. Bei der Entscheidung spielte der Umstand wohl nur eine untergeordnete Rolle, dass die Nazis die Bedingungen der Genfer Konventionen bei den sowjetischen Kriegsgefangenen und den „Italienischen Militärinternierten“ missachteten. [16]

Die Zwangsarbeiter:innen, die nicht nachweisen konnten, dass sie von dem NS-Regime ausgebeutet, entrechtet und misshandelt worden waren, gingen ebenfalls leer aus. Als Erfolgstory kann das Auszahlprogramm deshalb nicht gefeiert werden. Vielmehr war das Auszahlprogramm ein Tropfen auf dem heißen Stein. Schließlich gingen Millionen von Menschen leer aus. Dabei wurden die Zwangsarbeiter:innen, die in den besetzten Gebieten für die Nazis arbeiten mussten, gar nicht erst berücksichtigt. In der Forschung wird von 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich und noch einmal das Doppelte in den besetzten Gebieten gesprochen.

Die späten Entschädigungszahlungen und auch die Anerkennung als Opfer des NS-Regimes kamen für viele ehemalige Zwangsarbeiter:innen jedoch zu spät. Viele von ihnen starben schon vor der Gründung der Stiftung EVZ. Trotz aller Kritik war es ein wichtiges Zeichen in der deutschen Erinnerungskultur.

Ein weiterer Meilenstein ergab sich nach weiteren ausgefochtenen, erinnerungspolitischen Kämpfen und Forderungen vieler Aktivist:innen, die beständig darauf drängten, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen doch noch Ausgleichszahlungen erhalten sollen. Nach einem Antrag der Linken- und der Grünen-Bundestagsfraktionen zusammen mit einer Anhörung von verschiedenen Sachverständiger:innen beschloss der Bundestag im Sommer 2015 [17] , dass das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen zehn Millionen Euro erhalten solle, um jeweils eine symbolische „Anerkennungsleistung“[18] in Höhe von 2.500 Euro an ehemalige Rotarmist:innen auszuzahlen. Die Anträge konnten zwischen dem 30. September 2015 und dem 30. September 2017 gestellt werden. Wäre diese Entscheidung bereits bei der Gründung der Stiftung EVZ gefallen, hätte Deutschland Schätzungen zufolge „noch mehrere Zehntausende von überlebenden Kriegsgefangenen erreichen können“ [19]. So lebten jedoch zum Zeitpunkt der Entscheidung geschätzt nur noch 4000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene. Diese „Anerkennungsleistung“ kam also ebenfalls für viele Überlebende zu spät. Von 2092 Anträgen wurden 1197 bewilligt. Von den zehn Millionen Euro nur 2,9 Millionen Euro ausgezahlt. [20]

Wenn es um diese Auszahlprogramme an Überlebende geht, wird häufig von Entschädigungszahlungen geredet und diese auch gefordert. Allerdings wird in beiden, genannten Auszahlprogrammen die Definition „Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen“ angewendet, denn diese Summen können nicht ansatzweise das erlittene Unrecht der NS-Opfer entschädigen. Überhaupt stellt sich die Frage, welcher Betrag angemessen wäre oder ob es möglich ist, eine angebrachte Entschädigungssumme zu definieren.

Medaille für die IMIs

Während also einige sowjetische Kriegsgefangene 15 Jahre nach der Gründung der Stiftung EVZ „Ausgleichsleistungen“ erhielten, gingen die Italienischen Militärinternierten wieder einmal leer aus. Auch Elia Tomasi erhielt nie irgendwelche Zahlungen aus Deutschland. Die einzige Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurde, war die Verleihung einer personalisierten Ehrenmedaille als Anerkennung seines erlittenen Unrechts. Dies wurde allerdings von der italienischen Regierung in dem Gesetz Nr. 296 vom 27. Dezember 2006 geregelt: Italienische Staatsbürger, die als zivile Zwangsarbeiter:innen und als Italienische Militärinternierte deportiert, in NS-Lagern interniert und in der NS-Zwangsarbeit eingesetzt wurden und ihre Nachfahren, können die Verleihung einer Ehrenmedaille beantragen. Die Übergabe der „Medaglia d’onore“ erfolgt im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung an einem italienischen Gedenktag oder speziell am 27. Januar, dem internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Ausgleichszahlungen oder finanzielle Unterstützung sind darin nicht vorgesehen. [21]

Elia Tomasi mit seiner Ehrenmedaille für italienische Militärinternierte
Elia Tomasi erhielt nie eine finanzielle Entschädigung aus Deutschland. Die einzige Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurde, war die Verleihung einer personalisierten Ehrenmedaille als Anerkennung seines erlittenen Unrechts Quelle: Privatbesitz

Elia Tomasi kehrte am 21. Juli 1945 in sein Heimatort Mattarello in Italien zurück. Seitdem feierte er jedes Jahr am 19. Juli seinen Geburtstag, am 20. Juli seinen Namenstag und am 21. Juli den Tag seiner Rückkehr. Lange Zeit bewahrte er die beiden Fotos von seinen Freundinnen aus der Sowjetunion auf – bis zu seinem Tod am 4. August 2014. Die Erinnerung an ihn und seine Freundschaft mit Sina und Wera bewahrt jetzt sein Sohn Maurizio – und nun auch der Denkort Bunker Valentin.

Autorin des Beitrags: Ksenja Holzmann

Lesehinweis: Einen weiteren Beitrag zum Thema „Ostarbeiter“ finden Sie bei DEKODER – Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

„Ostarbeiter“ | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

Quellennachweis:

[1] „An die Tage des Überlebens“ (Titel) - Widmung auf der Rückseite eines Fotos von Wera Falej (o. D.), Nachlass Elia Tomasi, Privatbesitz.
[2] Buggeln, Marc: Bunker „Valentin“. Marinerüstung, Zwangsarbeit und Erinnerung, 2. Aufl., Bremen 2017, S. 150.
[3] Literaturhinweis zum Themenschwerpunkt zivile Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion: Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“ in Briefen, Erinnerungen und Interviews, hg. v. Memorial International Moskau und Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2019.
[4] Vgl.: Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, München 2001, S. 71-80. / Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs, Bonn 1999, S.11.
[5] Vgl.: Alltag Zwangsarbeit 1938-1945. Begleitband zur Dauerausstellung, hg. v. Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide, Berlin 2013, S.26ff. / www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/zwangsarbeit/zwangsarbeit-begriffe/index.html
[6] Vgl.: Wildt, Michael: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, 2. Aufl., Berlin 2019, S. 23-46.
[7] Zemskov V. N. (1995): Repatriacija sovetskich graždan i ich dal'nejšaja sud'ba (1944–1956), in: Sociologičeskoe issledovanie: Ežemesjačnyj žurnal,1995, № 5., S. 3-13, hier: S. 10.
[8] Vgl.: Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Berlin 2001, S. 212f.
[9] Alltag Zwangsarbeit 1938-1945. Begleitband zur Dauerausstellung, hg. v. Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide, Berlin 2013, S. 256.
[10] Vgl.: Goschler, Constantin: Die Auseinandersetzung um Anerkennung und Entschädigung der Zwangsarbeiter, in: Knigge, Volkhard/ Lüttgenau, Rikola-Gunnar/ Wagner, Jens-Christian (Hg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Ausstellung, Weimar 2010, S. 232-243.
[11] www.stiftung-evz.de/stiftung/geschichte.html
[12] Vgl.: Knigge, Volkhard/ Lüttgenau, Rikola-Gunnar/ Wagner, Jens-Christian (Hg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Ausstellung, Weimar 2010, S.168. /
www.stiftung-evz.de/stiftung/zahlen-und-fakten.html
[13] Alltag Zwangsarbeit 1938-1945. Ausstellungskatalog des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2013, S. 265.
[14] Vgl.: Zwischen allen Stühlen. Die Geschichte der Italienischen Militärinternierten 1943-1945. Ausstellungskatalog, hg. v. Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2016, S. 254ff.
[15] zeitgeschichte-online.de/themen/spaete-entschaedigung-fuer-die-opfer-einer-kalkulierten-vernichtungsstrategie
[16] Vgl.: Zwischen allen Stühlen. Die Geschichte der Italienischen Militärinternierten 1943-1945. Ausstellungskatalog, hg v. Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2016, S. 64f.
[17] Vgl.: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw21_pa_haushalt-374446
[18] Vgl.: www.badv.bund.de/DE/OffeneVermoegensfragen/AnerkennungsleistungSowjetischeKriegsgefangene/start.html
[19] zeitgeschichte-online.de/themen/spaete-entschaedigung-fuer-die-opfer-einer-kalkulierten-vernichtungsstrategie
[20] de.sputniknews.com/politik/20190417324727435-entschaedigung-sowjetische-kriegsgefangene/
[21] Vgl.: Zwischen allen Stühlen. Die Geschichte der Italienischen Militärinternierten 1943-1945. Ausstellungskatalog, hg. v. Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2016, S. 254ff.

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